Warum denken?
Philosophischer Blickwinkel – die Philosophiekolumne von Tabitha Prusseit
Solidarität
In meiner Kolumne nehme ich Dich mit auf die Reise rund ums Denken. Denken, insbesondere das kritisch reflektierte Denken, ist das wichtigste Werkzeug eines philosophischen Blickwinkels. Ein philosophischer Blickwinkel ermöglicht uns, als eine Art Universalmethode, die Dinge um uns herum aus einer anderen Perspektive heraus zu betrachten und dadurch neue Erkenntnisse zu gewinnen. So können wir nicht nur ein tieferes Verständnis für die Dinge um uns herum, sondern auch völlig neue Ideen entwickeln. Ich wünsche viel Spaß auf Deiner Reise des Denkens.
„Die menschliche Gemeinsamkeit, die Solidarität läßt sich verkennen, aber die läßt sich nicht aufheben!“ (Ferdinand Lassalle)
Heute möchte ich Dich zu meinem Gedanken zur Solidarität mitnehmen.
Hier sitze ich nun mit meinem Kaffee, der ein tägliches Muss ist. Die Sonne ist bereits aufgegangen und ich höre den Wind, der durch die Blätter der Bäume im Garten streicht. Ich schaue in die Ferne und mir wird klar: Meinen morgendlichen Kaffee, der mir immer so selbstverständlich schien, sehe ich mit anderen Augen.
Warum sehe ich ihn mit anderen Augen? Ich erinnere mich, wie ich an einem warmen Frühlingstag morgens in der Mensa der Universität mit Kommilitonen und Kommilitoninnen sitze und wir gemütlich mit einem Kaffee in den Tag starten. Das Getränk in meiner Hand, das gerade mal 2,50 Euro kostete, wurde von einem meiner Kommilitonen bezahlt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich nicht genug Geld und musste überall dort Abstriche machen, wo etwas nicht unbedingt notwendig war. Der tägliche Kaffee, der für mein Gemüt eine Notwendigkeit war, wurde demnach eingespart. Denn ich kalkulierte: 2,50 Euro Einsparung pro Tag sind 12,50 Euro die Woche und 50 Euro im Monat. Und bei meinem täglichen Kaffeeverbrauch, der meist mehr als eine Tasse beinhaltete, war das jede Menge! Bei meinen Kommilitonen und Kommilitoninnen löste mein Verzicht zunächst Verwunderung aus, welcher nach mehreren Tagen in zu rechtfertigenden Fragen mündete. Hier muss ich anmerken, dass ich zu denjenigen gehörte, die nie – wirklich nie – ohne Kaffee morgens im Seminar oder der Vorlesung anzutreffen waren. Ich liebe einfach guten Kaffee!
Doch zurück zu den Fragen: Ich wollte nicht lügen – aber die Wahrheit zu sagen und über Geldmangel zu sprechen, traute ich mich auch nicht. Ich schämte mich, nicht mit einem Kaffee in der Hand an unserem täglichen Kaffeetisch teilhaben zu können, obwohl mein Verstand mir sagte, dass es keinen Grund dazu gab. Mir war beigebracht worden, dass nicht über’s Geld gesprochen wird. Leider! Also saß ich mit meinen Kommilitonen und Kommilitoninnen am Tisch, lächelte erschwert und sah den anderen dabei zu, wie sie genüsslich und unbeschwert ihren morgendlichen Kaffee genossen.
Weil meine Kommilitonen und Kommilitoninnen vermehrt dachten, ich würde nicht mehr offen mit ihnen reden wollen – was eine soziale Komponente darstellt – fasste ich mir ans Herz und dachte mir: Sei jetzt mutig! Und ich war mutig! Ich erzählte beim nächsten täglichen Kaffeetisch von meiner Lage. Für mich war das nicht leicht – die Reaktion der anderen war dafür umso bewegender! Ein Kommilitone sprang sofort auf und holte mir einen Kaffee – so wie ich ihn immer getrunken hatte: mit einem guten Schuss Milch! Ich konnte nicht mal etwas sagen, so schnell war er! An diesem Tag führten wir ein, dass wir uns untereinander immer wieder einen Kaffee spendieren. Meine Situation wurde dadurch nicht weiter zum Thema gemacht, sondern eine fruchtvolle Lösung entstand: Solidarisch spendierte man einfach Kaffee, so dass jeder ohne Marginalisierung mit Kaffee am Tisch saß – alle sind gleich! Bedingungslos! Und wir hatten Spaß daran, uns gegenseitig morgens zu sagen „Zahlst heute du?“ oder „Heute zahl ich!“, ohne weitere Fragen zu stellen. Ich sah sogar, wie ein Kommilitone so viel Spaß daran hatte, dass er fremden Studierenden, bei denen er sah, dass das Geld auf der Karte nicht ausreichte, seine Karte mit einem Lächeln an den Automaten hielt. Mein Herz ging auf!
Warum rede ich hier über Kaffee? Tja, Kaffee, insbesondere der morgendliche Kaffee, ist für die meisten Menschen eine Selbstverständlichkeit. Darauf verzichten zu müssen scheint undenkbar. Es ist allerdings diese Selbstverständlichkeit, die meine Gedanken zur Solidarität prägte. Ich erkannte, dass der Mensch ein soziales Wesen ist und zu einem sozialen Wesen gehört es entsprechende Bedürfnisse zu haben: Bedürfnisse wie Geborgenheit, Zugehörigkeit und Anerkennung sind relationale Begriffe, die nur sozial funktionieren können. Es gehört einfach zum Wesen des Menschen, sozial zu sein! Ob er will oder nicht! Hier ist ein Mensch auf seine individuelle Weise sozial: Gründe ich eine Stiftung? Setze ich mich für Diversität und Gleichberechtigung ein? Lächle ich einen Menschen auf der Straße an? Trage ich die Einkaufstaschen einer alten Dame die Treppen hinauf? Spendiere ich einer obdachlosen Person einen Kaffee? Die sozialen Tätigkeiten sind vielseitig! Doch, wenn der Mensch seinem Wesen nach sozial ist und sich entscheidet, sich diesem zu verweigern, was passiert dann? Ist dies überhaupt möglich? Und wovon hängt dies ab? Das sind Gedanken, die mich heute, mit meinem Kaffee in der Hand und meiner Erinnerung an meinen euphorischen Kommilitonen, den Tag über zum Thema Solidarität begleiten werden.
Wer sich mehr für solidarische Handlungen im Alltag interessiert, für den könnte das Konzept eines ‚aufgeschobenen Kaffees‘ interessant sein: https://suspendedcoffee.de/spendiert/ (oder in einer Suchmaschine ‚suspended coffee‘ eintippen).
Illustration: 愚木混株 Cdd20