Rituale

Von Jan Thul.

Jeden Tag, direkt nach dem Aufstehen, mache ich mir Kaffee. Genug für genau drei Tassen. Die erste Tasse trinke ich vor meinem Rechner, während ich meine E-Mails und Social Media checke. In jede Tasse kommen zwei Würfel Zucker und zwei kleine Dosen Kondensmilch, wie es sie auch in Cafés gibt.

Letztes Frühjahr, als ich in meine kleine 1-Zimmer-Wohnung zog, hatte ich keinen Kühlschrank. Darum kaufte ich mir damals diese Dosen, statt frischer Milch. Auch ein Jahr später, mittlerweile mit Kühlschrank, sind die Dosen geblieben.

Nachdem ich meine Sachen am Rechner gecheckt und die erste Tasse getrunken habe, fülle ich die Hälfte des übrigen Kaffees in eine kleine Thermosflasche, damit sie heiß bleibt. Die andere Hälfte schenke ich in meine Tasse. Zwei Würfel Zucker, zwei Dosen Kondensmilch. Ich stopfe mir eine Zigarette, was günstiger ist, als sich Schachteln zu kaufen. Dann nehme ich meine Tasse und die Zigaretten und öffne die Tür zum Balkon, die direkt neben dem Schreibtisch ist.

Auf meinem Balkon steht ein alter Klapptisch, dessen Oberfläche vom Regen aufgerissen ist. Davor ein einziger Plastikstuhl. Ich besitze zwei, aber der andere wird als Küchenschrank benutzt. Auf dem Tisch steht ein Topf mit weißen Blumen, deren Namen ich vergessen habe. Daneben ein Aschenbecher. Wenn ich ehrlich bin, haben die Blumen mittlerweile einen leichten Gelbstich bekommen.

Ich schaue auf die Uhr. Es ist 9.50 Uhr. Ich zünde meine Zigarette an, stelle den Kaffee auf den Tisch und schließe die Augen. Die Sonne scheint zwischen den Dächern dieses und der umliegenden Häuser durch und mir direkt ins Gesicht. Das tut sie in diesem Winkel zu dieser Jahreszeit nur zu dieser Uhrzeit und nur für etwa zehn Minuten.

Mit geschlossenen Augen denke ich an die Balkone zu meinen Seiten. Die Wohnung rechts steht seit ich hier eingezogen bin leer. Der Balkon zu meiner Linken ist voll mit Müll. Alte Töpfe, Plastikplanen, ein halbleerer Kasten Bier. Ich habe noch nie jemanden dort gesehen, oder etwas aus der Wohnung gehört. Das Gebäude rechts hat keine Balkone zu diesem Hof. Das Haus links nur ganze kleine auf denen vielleicht eine Person stehen kann. Nur  gegenüber gibt es Balkone wie hier. Der Hof ist ein kleines Rechteck, das nach oben die Sonne verschluckt. Als letztes Jahr Leute auf ihren Balkonen applaudierten kamen die Geräusche von weit über mir. Es klang zwar so, als wären es viele gewesen, aber ich glaube, das ist dem Echo in diesem Rechteck geschuldet.

Nach zehn Minuten spüre ich, wie die Wärme in meinem Gesicht nachlässt. Nach weiteren fünf Minuten öffne ich die Augen. Auf dem gegenüberliegenden Balkon steht ein Tisch, nicht aus Plastik, sondern aus Holz. Auf der Fensterbank dahinter, die auf den Balkon ragt, steht ein Glas, das zur Hälfte mit Wasser gefüllt ist. Dass es mit Wasser gefüllt ist, sehe ich von hier aus zwar nicht, habe aber schon einige Male das Zischen gehört, wenn eine Zigarette ins Glas fällt oder die Person auf der anderen Seite hinein ascht. Dann steht das Glas allerdings auf dem Tisch und eine Hand kommt hinter dem Mauerwerk hervor. Das Fenster ist mit einem Tuch verhangen. Die rechte obere Ecke des Tuches, die instabilere von den beiden Ecken, hat sich vor einigen Wochen gelöst, aber wurde nicht wieder richtig angebracht.

Letztes Jahr um diese Zeit saß ich das erste Mal mit geschlossenen Augen auf diesem Balkon. Ich wollte das bisschen Sonne tanken, das ich hier abbekam. Ich hatte mir vorgenommen dafür in Zukunft früher aufzustehen, Regelmäßigkeit und Rhythmus in mein Leben zu bekommen. Ich hörte das Klacken eines Feuerzeugs, zog mit geschlossenen Augen an meiner Zigarette und fühlte die Wärme und das Licht auf meinen Augenlidern. Dann hörte ich ein Zischen, aber ich dachte mir nichts dabei. Ich wusste damals schon von diesem Echo, das die Geräusche aus den oberen Etagen zu mir nach unten trug. Als ich die Augen dann schlussendlich öffnete, sah ich, wie sich die Balkontür mir gegenüber schloss.

Im Laufe des Tages ging mir dieses Zischen dann nicht mehr aus dem Kopf. Wieso hatte ich nicht gehört, wie jemand den Balkon betreten hatte, oder hatte ich die Person einfach übersehen? Das erste Mal hatte ich in einer der Wohnungen zum Hof eine Person wahrgenommen, nicht nur körperloses Klatschen, und es beschäftigte mich. Im Laufe des Tages ging ich öfter auf den Balkon zum Rauchen, als ich das normalerweise tat, aber ich sah niemanden auf der anderen Seite. Abends schmerzte mein Hals etwas von den Zigaretten.

Am nächsten Tag verschlief ich. Ich wachte erst nach zehn auf, machte trotzdem die drei Tassen Kaffee und ging direkt  mit der ersten auf den Balkon. Ich trank auch die zweite da mit einem Buch in der Hand. Aber ich konnte mich nicht aufs Lesen konzentrieren, sondern schaute bei jedem kleinen Geräusch auf. Ich trank den dritten Kaffee direkt danach und mir wurde schlecht. Zu viele Zigaretten und zu viel Kaffee direkt hintereinander auf leeren Magen. Ich sagte die erste Zoom-Konferenz für den Tag ab und lag stattdessen mit einer Wärmeflasche im Bett.

Am nächsten Tag wurde ich etwas zu früh wach. Ich verbrachte Zeit auf Twitter, schaute mir die neuen Stellenausschreibungen auf academics.de an und beantwortete die eine neue WhatsApp-Nachricht von meiner Mutter. Hey, ja alles gut soweit.

Um 9.30 Uhr stand ich dann auf, startete meinen Laptop und die Kaffeemaschine. Um 9.45 Uhr saß ich mit meinem Kaffee und einer Zigarette auf dem Balkon. Ich hatte damals noch nicht die perfekten Zeiten internalisiert und wunderte mich, wo die Sonne blieb.

Ich nahm den Balkon wieder in den Blick, wie am Vortag. Das Mauerwerk war etwas höher als auf meiner Seite. Dahinter sah ich dann doch Rauch aufsteigen. Das Glas stand nicht mehr auf der Fensterbank, sondern auf dem Tisch aus Holz und eine Hand hob sich hinter dem Mauerwerk hervor. Das Zischen von vorgestern, etwas leiser. Ich kniff meine Augen zusammen und konnte dann endlich Haare ausmachen. Sie waren grob in einem Dutt zusammen gebunden. Dunkle, dicke Locken fielen aus diesem Konstrukt, teilweise unterbrochen von einzelnen schneeweißen Strähnen.

Eine Person, die also, genau wie ich, vormittags um zehn zu Hause war. Auf ihrem Balkon auf dem Boden saß und eine Zigarette rauchte. Von der Hand und den Haaren konnte man nicht viel erfahren. Ich erkannte nur etwas, das glänzte wie ein Armband in Weiß. Die Haare halfen mir auch nicht, ein klareres Bild vor meinen Augen zu bekommen. Ich trug meine tatsächlich ganz ähnlich kurz nach dem Aufstehen.

Ich überlegte aufzustehen, um besser hinter das Mauerwerk schauen zu können, aber mir kam der Gedanke, dass das merkwürdig aussehen würde. Ich würde der Person und mir vorkommen wie ein Stalker. Vielleicht war sie auch einer dieser Menschen, die nackt herumliefen, wenn sie alleine in ihrer Wohnung sind, und saß deshalb auf dem Boden und nicht auf dem Stuhl. Vielleicht wollte sie auch einfach keinen Kontakt zu irgendwelchen Nachbarn aufbauen.

In den Wochen davor hatten meine zwischenmenschlichen Begegnungen darin bestanden, der Kassiererin bei Rewe zu sagen, dass ich gerne mit Karte zahlen würde, und gelegentlichen Workshops, in denen ich mittelalten Herren dabei zuhörte, wie sie zu bestimmten Themen standen. Ich sehnte mich nach einem ungezwungenen Gespräch mit einer Person, die ich nicht verpixelt auf meinem Bildschirm sah.

Während ich nachdachte, wie ich vorgehen sollte, hatte sich die Sonne langsam auf mein Gesicht gelegt und ich ganz unwillkürlich und in Gedanken meine Augen geschlossen. Ich hörte das Zischen und riss sie wieder auf. Einen Arm konnte ich noch erhaschen, während sich die gegenüberliegende Tür vor meinen Augen schloss. Die Person hatte ein Tattoo auf dem linken Unterarm, das konnte ich ganz genau sehen. Ein Drache vielleicht? Ich ging an dem Tag noch einige Male auf den Balkon eine rauchen, aber ich sah nur das Glas auf der Fensterbank stehen.

Am nächsten Tag fing es an zu regnen. Ein angenehmer, kühler Regen, der die ganze Woche anhalten würde. Die Sonne schien mir nicht mehr ins Gesicht, da sie sich hinter den Wolken versteckte. Dennoch verbrachte ich jeden Morgen ab 9.50 Uhr auf dem Balkon. Die Tatsache, dass die andere Person nicht erschien, verstärkte meine Vermutungen, dass sie wahrscheinlich nackt in ihrer Wohnung war und die Nässe und Kälte des Regens ihr zu unangenehm waren. Vor drei/vier Monaten begann ich auch nackt in meiner Wohnung herumzulaufen. Nach meinen drei Morgenkaffee und nur, wenn ich keinen Termin über Zoom habe.

In dieser Regenwoche sah ich einmal diesen linken Arm mit dem Drachen-Tattoo, wie er das Tuch hinter dem Fenster wieder richtig einhackte. Es war an der rechten Seite abgerutscht.

Nachdem der Regen sich gelegt hatte überlegte ich ein Pappschild aufzustellen. Ich hätte „Hey“ oder „Hey, wie geht’s dir?“ darauf geschrieben. Vielleicht auch „Hey, cooles Tattoo. Ist das ein Drache?“ oder „Hey, das ist ein schönes Armband. Btw, ich trage die Haare auch oft so!“

Ich dachte viel über potentielle Schilder nach, während ich meinen zweiten Kaffee trank. Ich machte mir Gedanken darüber, wie die Person wohl da drüben leben würde. Vielleicht genauso alleine wie ich? Vielleicht überlegte sie genau wie ich, ob sie mir ein Schild basteln sollte? Vielleicht versuchte sie herauszufinden, wann ich auf dem Balkon wäre ohne, dass die Sonne mich blendet?

Ich sah sie nur noch einmal. Es war bereits spät abends, die Sonne untergegangen und das Rechteck im Hof war finster. Ich ging auf den Balkon um die letzte Zigarette vor dem Schlafengehen zu rauchen, genoss die kalte Luft auf meiner Haut. Ich hörte Geschirr, das irgendwo weit über mir gewaschen wurde. Hörte verzerrtes Kinderlachen, das von den Dächern zu kommen schien. Und hörte ein Schluchzen. Das leise sanfte Geräusch einer Person, die kurz davor war loszuweinen. Dann ein Zischen. Das Glas auf der anderen Seite stand auf dem Tisch und für einen Moment sah ich, wie an einer Zigarette gezogen wurde, da auf dem anderen Balkon. Die Glut erhellte das Gesicht dahinter. Dunkle Augen sahen mich geradewegs an. Sie glänzten ganz feucht. Dann ein sanftes Zischen und das zufallen einer Tür.

Seit damals habe ich mir angewöhnt, meinen zweiten Kaffee um Punkt 9.50 Uhr auf dem Balkon zu trinken, um vielleicht noch einmal diesen Unterarm mit dem Tattoo oder diesen direkten Blick zu sehen.

Das Dishwasher Magazin ist ein Magazin von Arbeiter*innenkindern für alle. Der Name bezieht sich auf den sog. Tellerwäscher-Mythos, also der Annahme, jede*r egal wo er oder sie herkommt und wer die Eltern sind, könne vom Tellerwäscher zum Millionär werden. So predigen es häufig privilegierte Menschen, auch wenn dies nicht der Realität entspricht.

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