Anekdote einer befremdlichen Erfahrung oder Mein erstes – und letztes Mal – in einem Marx Lesekreis

Ich war zusammen mit einem Kommilitonen in einer Lerngruppe. Auf den ersten Blick war er umgänglich, wir verstanden uns gut. Konnten übers Studium, über Musik und vielerlei Alltagsdinge reden. Wenn es uns allerdings in die Ecke der gesellschaftlichen Themen wie Ungleichheit und Wirtschaft verschlug, stellte sich bei ihm eine Veränderung ein. Seine Argumentationen wurden rhetorisch immer komplexer, sein ganzer Sprachgebrauch schien sich von einem aufs andere zu verändern.

Ich war noch neu an der Uni und suchte Anschluss, also ließ ich mich drauf ein und versuchte dagegen zu halten oder ließ mich überzeugen. Ich dachte nur so: „Ok, wie kommt er jetzt von da nach da und wie hat er den rhetorischen Bogen geschlagen?“ Egal, theoretisch abstrakte Gespräche über das Für und Wider von verschiedenen Ansichten und Theorien… yeah, das ist Uni. Ich bin angekommen.

Dann, eines Tages ging ich mit zu einem Treffen seiner Gruppe. Die ganze Uni-Welt machte auf mich den Eindruck, dass alle irgendwo unabhängig vom Stundenplan noch Mitglied in irgendeiner Gruppe seien… also wollte ich das auch und gab dem Ganzen eine Chance. Auch wenn der Inhalt unserer Gespräch mir irgendwie am Anfang immer einleuchtend vorkam, aber mich am Schluss immer mit einem dumpfen Gefühl der Ratlosigkeit zurückließ.

Du bist nicht willkommen

Gesagt getan. Für den  Abend war ein Marx-Leserkreis angesetzt. Er fand in einem kleinen beengten Büroraum außerhalb der Uni statt. Der Raum gehörte zu einem Verein, von dem ich noch nie gehört hatte. Die Gruppe machte auch Werbung dafür und verkündete man könne jederzeit einsteigen. Ich nur so „Marx? Ok, kann ja nicht schaden.“ Zuerst fiel mir auf, alle hatten dieselbe Ausgabe; zusätzliche Exemplare für Neueinsteiger gab es nicht. Auch eine Vorstellungsrunde gab es nicht. Alle kannten sich. Ich hingegen holte mein Tablet heraus und versuchte in einer digitalisierten und freizugänglichen Ausgabe mit zukommen. Für das Tablet erntete ich gleich erstmal böse Blicke. Aber egal es ging ja nicht um mich sondern um Marx.

Zuerst stellte derjenige der anscheinend diesen Lesekreis organisierte, beworb und sogar Geld, aus irgendwelchen fördertöpfen, dafür bekam, den heutigen Teil Abschnitt vor, um den es ging. Er sah nicht sonderlich anders aus als alle anderen und machte auch keinen professionelleren Eindruck. Er hätte ebenso auch einfach ein Teilnehmer sein können. Das störte mich aber nicht weiter. Danach wechselten sich Phasen intensiven Lesens und Austausches über das Gelesene ab. Ich merkte, die anderen schienen regelrecht in die Argumentation einzutauchen und diese wiedergeben zu wollen. Alle schienen schon so weit fortgeschritten, dass sie nach dem Sinn und der Relevanz des Textes nicht mehr zu fragen brauchten. Sie konzentrierten sich nur noch auf die Argumentation. Es sah irgendwie wie Training aus. Es fiel ihnen immer einfacher die Argumentation zu übernehmen zu wiederholen und in neue Kontexte einzubinden. Manchmal fielen die Argumentationen auch irgendwie anders aus als im Text, und man blieb bei gewissen Argumentationsmustern, selbst wenn ein paar Seiten später im Buch eine andere Haltung zum Vorschein kam oder sich gewisse Widersprüche andeuteten. Egal der Bluff muss sitzen. Man hatte sich nun mal auf das Argument geeinigt.

Wenn man länger drüber nachdenkt

Insgesamt war es ein ziemlich befremdlicher Abend für mich. Es schien von vorne herein nicht um die persönliche Lernerfahrung im Umgang mit einem Buch bzw. einer theoretischen Haltung oder gar der Entstehung des Buches und der Theorie im geschichtlichen Kontext zu gehen sondern darum, einen dogmatischen Konsens in der Gruppe zu finden und zu üben wie man diesen verteidigt.

Die Argumente schlugen irgendwie immer in die selbe Kerbe. Es ging darum in „die“ und „wir“ zu trennen. In „Schwarz“ und „Weiß“, in „Ja“ und „Nein“, „Besitzer“ und „Verlierer“. Mich sprach das so gar nicht an, die Welt ist vielschichtiger und komplexer als das.

Noch misstrauischer machte mich, dass man stets auf einer abstrakten Ebene verblieb und gar nicht genau sagte, wer „die“ und wer „wir“ oder wer die „Besitzer“ und wer die „Verlierer“ waren. Es ging noch weiter. Auf die diffusen Kategorien von „die“ und „wir“ folgten dann alltagssprachlich gestaltete Phrasen und rhetorische Kniffe, und es gipfelte stets in einer – so scheint es – rationalen Schuldzuweisung.

„Wir“ wissen ja alle, dass „die“ das aus reiner Profitgier tun. So oder so ähnlich leitete man ein, dann kam ein Schwall an theoretisch, analytisch und wissenschaftlich klingenden Erläuterungen. Das Schlimme an dem Ganzen war, zuerst hörte es sich immer ganz vernünftig an. Man wurde rhetorisch eingelullt und merkte das gar nicht.

All diese Gedanken kamen mir natürlich nicht währenddessen sondern erst etwas zeitversetzt. Ich ging nie wieder zu einem Lesekreis dieser Gruppe und alle anderen Aktivitäten dieser Gruppe sagten mir auch nicht sonderlich zu … so brach dann auch der Kontakt zu meinem Kommilitonen ab. Man sieht sich hin und wieder noch im Uni-Alltag, grüßt evtl. noch nett oder versucht Smalltalk zu machen. Aber gesellschaftsrelevante Themen kamen nie wieder zu Sprache. Man weiß nun, dass man sich gegenseitig als befremdlich wahrnimmt.

Was Bleibt

Mit der Zeit habe ich erfahren, dass diese krude Denkweise weit verbreitet ist – also das unhinterfragte Argumentieren mit unter linken populären Dogmen. Wenn ich heute auf einen Vortrag oder eine Infoveranstaltung gehe und genau das vorfinde, denke ich immer zuerst an meinen Kommilitonen mit dem befremdlichen Lesekreis.

Meistens fällt dann auch noch eine Reihe von Schlüsselworten oder Phrasen wie z.B.: die lohnabhängig Beschäftigten müssen XY …ehrlich mal. Ich habe bereits lange Zeit gearbeitet, bevor ich ins Studium ging und ich würd mich niemals als „(lohn)abhängig“ bezeichnen. Jedenfalls ist das dann der Moment, in dem ich einfach gehe.

Als Arbeiterkind an der Uni merke ich leider immer wieder wie befremdlich und teils auch wie realitätsfern gewisse Szenen und Kreise an der Uni sind und wie sehr sie dazu beitragen, dass Arbeiterkinder ausgegrenzt werden. Daher finde ich es wichtig sich immer wieder die Fakten ins Gedächtnis zu rufen. Wenn nur so wenige Arbeiterkinder an der Uni sind, wie die gängigen empirischen Studien belegen, dann ist es nicht verwunderlich, wenn das, was wir dort vorfinden uns in der Regel befremdlich vorkommt bzw. so überhaupt nicht anspricht. Heißt im Umkehrschluss aber auch, dass wir uns unsere eigene Sicht und unsere eigene Szene schaffen müssen, um uns an der Uni dauerhaft gut aufgehoben zu fühlen.

Das Dishwasher Magazin ist ein Magazin von Arbeiter*innenkindern für alle. Der Name bezieht sich auf den sog. Tellerwäscher-Mythos, also der Annahme, jede*r egal wo er oder sie herkommt und wer die Eltern sind, könne vom Tellerwäscher zum Millionär werden. So predigen es häufig privilegierte Menschen, auch wenn dies nicht der Realität entspricht.

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