Eine Hand hält einen Stein, der ein Auge hat

Und an welchem Tag schuf Gott das Kapital?

Von Andre Ngo

Als meine Mutter vor mehr als dreißig Jahren ihre Heimat verließ, wurde sie mit zwei Dingen ausgestattet, die ihr das Überleben in Deutschland ermöglichen sollten: einer befristeten Anstellung als Vertragsarbeiterin in einem Warenlager in der damaligen DDR, sowie einer Bibel in vietnamesischer Übersetzung, die sie später von einem west-deutschen Ehepaar in die Hand gedrückt bekommen hatte.

Es dauerte nicht lange, bis die Mauer fiel und die überhastete Wende kam, was für sie bedeutete, wie für alle Vertragsarbeiter:innen, auf das Bestreben der wiedervereinigten Bundesregierung das Land verlassen und in ihre Heimat zurückkehren zu müssen. Doch sie wollte bleiben. Und so kam es dazu, dass sie sich dazu verleiten ließ, einen Mann zu heiraten, den sie weniger liebte, sondern der vielmehr etwas besaß, das sie vor der Abschiebung schützen würde: die verheißungsvolle deutsche Staatsbürgerschaft, die er sich in den Fabrikhallen der Automobilfirmen dieses Landes jahrelang erarbeitet hatte, nachdem ihm zuvor, er war erst neunzehn Jahre alt gewesen, die Flucht als boat person in den Westen gelungen war1.

Sie durfte nun bleiben, und doch musste sie gehen. Denn er trank, er schrie, er schlug zu.

Neuer Himmel, neue Erde

Seitdem ich denken kann, redet meine Mutter einerseits von dem apokalyptischen Untergang der Welt, der Endzeit und der Trübsal, die über den sündhaften Teil der Menschheit einkehren würden. Gott würde jene strafen, die die biblischen Gebote missachtet hatten und nicht um Vergebung baten; und andererseits von dem Anbrechen eines neuen Zeitalters, der Einlösung eines paradiesischen Lebens, welches in der Bibel verheißen wurde. Ein solches, in welchem kein Schmerz und keine Tränen mehr sein würden, sondern nur noch Glückseligkeit2. Nur noch ein paar Jahre würde es dauern, so erklärte sie es mir, andauernd.

Die Stimmen, die sie seit ein paar Jahren in ihrem Kopf hört, sagen ihr in alternierenden Abständen, dass sie ihre Sachen packen müsse, denn Gott würde bald kommen und sie abholen. Ein neues Leben, in einem neuen Himmel und einer neuen Erde3 – welche lediglich wenige Kilometer über unseren Köpfen schweben würden – erblüht ihr. Ein solches, in welchem sie wieder wie eine 22-Jährige aussehen würde, zierlich und bildhübsch, wie auf den alten Fotos, die sie überall notdürftig, jedoch liebevoll in der Wohnung aufgehängt hat. Sie wäre gebildet, kultiviert und belesen. Sie würde wissen, wie man Klavier spielt, und sie wäre nicht nur Lehrerin an einer Schule, wie sie es in Vietnam kurzzeitig gewesen war, sondern sogar Direktorin. In einem beschaulichen Haus mit einem Garten würde sie leben, mit zahlreichen Kindern, die natürlich allesamt streng gläubig wären und vor Gottesfurcht nur so strotzen würden – und mit einem Mann, der sie liebt; es ist Paulus, einer von den Aposteln des Evangeliums.

Es sind die Stimmen ihrer Träume, die aus ihr zu ihr selbst sprechen. Jene Träume, die ihr verwehrt geblieben sind. Träume, die allzu irdisch sind, und ihr doch nur auf himmlischen Gefilden möglich erscheinen.


Es sind die Stimmen ihrer Träume, die aus ihr zu ihr selbst sprechen. Jene Träume, die ihr verwehrt geblieben sind. Träume, die allzu irdisch sind, und ihr doch nur auf himmlischen Gefilden möglich erscheinen. Sie imaginiert ein Leben, das hätte anders verlaufen können. Ein solches, an das sie denken kann, um die Misere des Diesseits ein wenig erträglicher zu machen. Eines, auf das sie hoffen will, dass all das Leid, das ihr widerfahren ist, nicht vergebens war. Eines, in dem sie ein Individuum wäre, das zu Geltung und Anerkennung käme. Eines, welches nicht für andere lebt, sondern einfach für sich selbst.

Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft sie eine dieser Phasen durchlaufen ist, in welcher sie das gesamte Inventar unserer Wohnung entrümpelt und in Plastiktüten gepackt hat, welche sich dann in jeder Ecke auftürmen. Utensilien bereithält, um die Zeit der „Großen Trübsal“ zu überstehen. Manisch Stöcke sammelt und die halbe Garage damit füllt, um notfalls ein Feuer zu legen. Im Keller bis zur Decke hoch Toilettenpapier hortet, weil sie dachte, jetzt würde es wirklich passieren, als es sie im Laden nunmehr in begrenzter Stückzahl gab. Bei jedem Mal, an dem sich ihre Ankündigung nicht bewahrheiten sollte, beteuert sie, dass Gott uns auf unsere Treue geprüft hätte – denn er kommt schließlich in jenem Moment, in dem man es am wenigsten erwarten würde. Also wartet sie weiter.

Auch wenn die Morbidität, die der Vorstellung, dass ungläubige Menschen aufgrund ihrer Ungläubigkeit ewiglich in der Hölle schmoren müssten, zugrunde liegt, sicherlich abstoßend ist, ist zumindest die Empfänglichkeit meiner Mutter für eine solche Botschaft rationalisierbar. Worauf soll man denn sonst hoffen? Dass die Ungerechtigkeit, die einem zeit dieses Lebens widerfährt, ausgeglichen wird? Ich möchte nicht insinuieren, dass Religion, nach Marx gegangen, tatsächlich das Opium des Volkes sei, auch möchte ich nicht etwa die protestantische Arbeitsethik mit dem Kapitalismus in Bezug setzen. Man mag es Jenseitsvertröstung nennen, was der christliche Glaube im Leben meiner Mutter anrichtet. Vielmehr möchte ich aber nicht wissen, wie es ihr gehen würde, wenn sie diesen Glauben nicht hätte.

Was macht es mit einem Menschen, aus einem Ort zu stammen, in welchem in der Kindheit abertausende massakriert wurden, an einem anderen Ort, tausende Kilometer von der Heimat entfernt, Zuflucht zu finden, um missbraucht zu werden, von einem anderen Menschen, dessen Leben ebenso gezeichnet ist, von dem Krieg, der sie beide hergebracht hatte; drei Kinder alleinerziehend aufzuziehen, in einem Land, dessen Sprache sie bis heute nicht mächtig ist, weil man sie eigentlich nicht hier haben wollte, in einem Land, dessen Toiletten und Exkremente sie hatte abwischen müssen, um über die Runden zu kommen, in einem Land, in dem sie ihre eigenen Kinder fragen musste, Hartz IV-Anträge in einem kaum zu durchdringenden Behördendeutsch auszufüllen, in einem Land, in dem sie meinen Bruder hätte abtreiben müssen, wäre sie nur ein paar Jahre eher schwanger geworden4, in einem Land, in dem sie ständig anderen helfen wollte, weil sie sich dafür schämte, auf Hilfe angewiesen zu sein, in einem Land, das ihre Psyche gebrochen hatte, in einem Land, in dem sie sich auch noch den Vorwurf macht, es sei doch selbstverschuldet?

Gönnt Gott Geld?

Es ist ausgeschlossen, dass die Stimmen tatsächlich jene Gottes sind. Denn sonst wären wir heute ziemlich reich. Immer wenn ihr jemand einen Gefallen tut, erzählt sie mir, mit aufrichtiger Freude für die- oder denjenigen, dass Gott diese Person mit Geld belohnen wird. Mehrere zehntausend Euro auf das Konto für den, der ihr beim Einpacken des Einkaufs hilft. Weitere tausend für die, die ihr den Weg zur nächsten Haltestelle zeigt. Geld für die Nachbarin, die bei ihr nach dem Rechten schaut. Dafür, dass ich mit ihr die Bibel lese. Dass ich das Geschirr abspüle – oder ihr ausnahmsweise keinen Ärger bereite. Aber vor allem Unsummen für alle, die glauben, dass Gott bald kommen wird. Für diejenigen, die sich darauf vorbereiten. Für meinen Bruder, der die Tüten mit seinem Auto nicht auf den Werkstoffhof gebracht haben soll, sondern in den Himmel.

Leider war bis heute kein einziger mystischer Zahlungseingang auf einem unserer Konten zu verbuchen. Es ist ein Umstand, der bisweilen ernüchternd sein kann, denn auch sie ist sich, trotz ihrer konträren Aussagen, dessen bewusst. Als die Lebensmittelpreise inflationsbedingt stiegen, wütete sie. Nicht mehr als 19 Cent dürfe das Brötchen kosten, maximal ein Euro die Milch. Scheinbar geriet sie deshalb mit Verkäufer:innen mehrmals in einen Streit, in dem sie eindringlich das Herabsetzen der Preise forderte. Erst als ich einen Brief vom Polizeipräsidium in unserem Briefkasten vorfand, erfuhr ich davon. Sie wurde wegen Hausfriedensbruch angezeigt und erhielt in beiden Läden in unserem Stadtteil Hausverbot.

Als ich die Einkäufe nun erledigen musste, tauchte sie einmal plötzlich in einem der Läden doch neben mir auf. Ich hoffte nur, niemand würde sie wiedererkennen. An der Kasse erkannte sie jedoch eine Verkäuferin wieder, in der sie Dämonen sah; sie ging auf sie los. Die panischen Schreie nach ihrem Chef sind in meinem Gedächtnis bis heute nicht verhallt.

Während der inständige Glaube meiner Mutter, an jenen, teuren Pfand zur Erlösung in einem Leben nach eben diesem, minutiös fortlebt, legen heutzutage nicht wenige Konfirmand:innen durch die üppigen Geldgeschenke ihrer Verwandten vermutlich eher ein Bekenntnis zum Kapitalismus als zum Christentum ab. Vielleicht scheint Gott sich wirklich nicht anders zu helfen zu wissen, Menschen zum Glauben zu bewegen, als mit Geld.

Internalisierter Rassismus

Wenn meine Mutter nicht nur von Gott, sondern auch über die Welt redet, dann spricht sie oftmals davon, dass die deutsche Wirtschaft brach liege. Darüber, dass mafiöse Korruption überall grassieren würde. Dass der Großteil der Bevölkerung arbeitslos und von Hartz IV abhängig wäre. Dass früher alles besser war. Dass Schuld daran die Ausländer seien. Die aus Osteuropa, die uns die Arbeit wegnehmen, und diese auch noch unsauber verrichten würden. Die Schuld für den kaputten Aufzug tragen. Schuld an dem deplatzierten Straßenschild haben. Schuld, an jeder Unstimmigkeit, die ihr im Alltag auffällt – allen voran aber sind es die Vietnamesen, die dieses Land still und heimlich unterminieren würden; sie sind es, die für den Niedergang Deutschlands verantwortlich seien.

Ich frage mich, was es bedeutet, wenn ihr Vater hingegen, den sie so sehr idealisiert und bis heute schmerzlich vermisst, deutsche Wurzeln gehabt haben und erst später nach Vietnam ausgewandert sein soll. Wenn mein Urgroßvater dieser alte, weiße Mann aus der Kirchengemeinde wäre. Wenn wir ein paar der wenigen „echten“, „wahren“ Deutschen seien. Wenn sie im Internet die deutsche Hymne aufruft und unwissentlich die erste Strophe anstimmt. Wenn sie inmitten einer Konversation mit einer tatsächlich deutschen Person auf Vietnamesisch spricht, weil sie überzeugt ist, dass die Mehrheit dorther stammen und sie es nur vor ihr verheimlichen würden.

Was offenbart sie, wenn sie sich derart von ihrer Identität abspaltet, dass sie ihre eigene Herkunft abstößt? Wenn jemand die Wurzeln seiner Heimat verkennt und sie stattdessen auf jenem fremden Boden situiert, in welchen man sie niemals hatte schlagen dürfen? Welche Minderwertigkeitskomplexe eines kollektiven Traumas müssen bis in das Innerste ihrer Psyche wirken, wenn sie rassistische Fremdzuschreibungen auf den Rest der Gesellschaft projiziert? Wenn es genau die Zuschreibungen sind, die sie zu hören bekäme, wenn ein Nazi sie auf der Straße anpöbeln würde?5

Wenn es weiße Menschen waren, die dein Land kolonisiert haben, wenn es weiße Menschen waren, die dein Land „in die Steinzeit“6 zurück gebombt und mit Herbiziden übersät haben, wenn sie es waren, die du um eine bessere Zukunft gebeten hast, weil es ihr Wohlstand war, den du ständig sahst, wenn es sie waren, die dir dafür auch noch den Rest deiner Würde nahmen – wenn sie selbst schafften, den Gott, an den du glaubst, zu einem Weißen7 zu machen. Möchte man dann nicht einer von ihnen sein?


Anmerkungen

1 Auch heute noch wagen etliche Menschen, aus Vietnam und zahlreichen anderen Ländern, die waghalsige Flucht in den Westen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Sie beten, dass sie bei der Überfahrt nicht sterben werden. (https://www.zeit.de/2020/20/migration-vietnamesen-leichenfund-kuehllaster-essex-grossbritannien/)

2 „[…] und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen.“ (Offenbarung 21,4)

3 „Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, und das Meer ist nicht mehr.“ (Offenbarung 21,1)

4 Wenn Vertragsarbeiterinnen schwanger wurden, wurde sie vor die Wahl gestellt: entweder Abtreibung oder Abschiebung. (https://www.zeit.de/zett/politik/2018-10/vertragsarbeiterinnen-in-der-ddr-heute-koennen-sie-keine-kinder-mehr-kriegen-weil-sie-kaputt-sind)

5 „Ich denke an meine Familie und meine vielen Verwandten, die den Kolonialismus in und auf ihren Körpern tragen […], wie sich Narben, Brüche, Gräben in Körper, Geist und Seele einprägen können; wie sie manchmal sichtbar, manchmal weniger sichtbar durch die Gegenwart geschleppt, gezerrt und getragen werden können, wie der Schmerz eines Ortes an einen anderen Ort getragen werden kann und wie der Schmerz eines Menschen in einem anderen Menschen weiterleben kann.“ – Sinthujan Varatharajah über koloniale Gewalt, in „an alle Orte, die hinter uns liegen“ (2022).

6 Dem amerikanischen Luftwaffengeneral Curtis E. LeMay wird das Zitat nachgesagt, er habe „Vietnam in die Steinzeit zurückbomben“ wollen. (www1.wdr.de/stichtag/stichtag1294.html)

7 Bereits Kinder tendieren schon im frühen Alter dazu, sich Gott als einen weißen Mann vorzustellen. (https://news.stanford.edu/2020/01/31/consequences-perceiving-god-white-man)

Illustration: 愚木混株 Cdd20

Das Dishwasher Magazin ist ein Magazin von Arbeiter*innenkindern für alle. Der Name bezieht sich auf den sog. Tellerwäscher-Mythos, also der Annahme, jede*r egal wo er oder sie herkommt und wer die Eltern sind, könne vom Tellerwäscher zum Millionär werden. So predigen es häufig privilegierte Menschen, auch wenn dies nicht der Realität entspricht.

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