obs/NORD STREAM RACE/NSR

Neoliberale Ideologie und der Hass auf Arbeitslose

Von Christopher Berberich

Die überlaufenen Tafeln zeugen davon: Wir haben in Deutschland nicht nur eine relative, sondern auch eine absolute Armut – es fehlt am Nötigsten!

Laut Paritätischem Wohlfahrtsverband leben 14,1 Millionen Menschen in Deutschland in Armut1. Dies entspricht einer Quote von 16,9 %. Als im Mai 2022 Armutsbetroffene unter dem Hashtag #IchbinArmutsbetroffen auf Twitter ihre Geschichten erzählten, aufklärten wie sie in Armut rutschen konnten und versuchten Vorurteile zu bekämpfen, schlug ihnen der blanke Hass entgegen. Überhaupt hat das Jahr 2022 alte Diskurse zurück in das Leben gerufen, die schon die 2000er Jahre dominierten. Nicht zuletzt aufgrund der „Bürgergeld“-Reform.

So berichteten Focus, Berliner Zeitung und RTL über „Berlins sparsamsten Arbeitslosen“. Dieser behauptete, Hartz IV sei zu hoch. Blöd nur, dass, rechnet man die in den Berichten benannten Summen zusammen, wie es der Twitter-User @kopperschlaeger getan hat, er monatlich mehr Geld ausgibt, als der Hartz IV-Satz hergab. Dabei spart er angeblich sogar 100 € monatlich2.

Es sei angemerkt: Nicht nur Arbeitslose sind von Armut betroffen, sondern auch Menschen, die im Niedriglohnsektor schuften, alleinerziehend sind, Angehörige pflegen oder solche, die in Behindertenwerkstätten zu Stundenlöhnen weit unter dem Mindestlohn arbeiten usw.

Doch wie kommt es zu solchen Berichten und warum schlägt Armutsbetroffenen und speziell Arbeitslosen so viel Hass entgegen?

Agenda 2010

Zwar ist der Hass gegen Arbeitslose deutlich älter, trotzdem lohnt ein Blick auf die Agenda-Reformen in der ersten Hälfte der 2000er. Deutschland steckte Anfang der 2000er in einer Wirtschaftskrise. Der neoliberale Ökonom Hans-Werner Sinn diagnostizierte damals: „Deutschland ist zum kranken Mann Europas geworden.“ Doch die rot-grüne Regierung hatte eine Lösung für das Dilemma. Durch die Schaffung eines Niedriglohnsektors sollte es möglich sein, das Land zu einer führenden Exportnation zu machen. Zur Umsetzung brauchte es weitgehende Reformen: die Agenda 2010.

Um die Menschen dazu zu bringen, schlecht bezahlte und prekäre Jobs anzunehmen, wurde das Arbeitslosengeld auf 12 Monate verkürzt und Hartz IV eingeführt, benannt nach dem damaligen VW-Personalvorstand Peter Hartz, der die Regierung bei den weitreichenden Reformen beraten hatte. Durch „Fördern und Fordern“, sprich Sanktionen, Bürokratiedschungel und häufig sinnlose Beschäftigungsmaßnahmen, wollte man Druck auf Arbeitslose ausüben, um diese in den neu geschaffenen Niedriglohnsektor zu zwingen.

Da die niedrigen Löhne nicht mehr zum Leben reichten, ermöglichte man die Aufstockung durch Hartz IV – im Grunde genommen eine Subventionierung schlechter Arbeitsbedingungen. Außerdem ermöglichte Hartz IV die Beschönigung der Arbeitslosenstatistiken, zum Beispiel indem Arbeitslose, die sich in Maßnahmen befinden, seitdem nicht mehr als arbeitslos geführt werden. Der Kündigungsschutz wurde gelockert, die Renten gekürzt, Leistungen der Krankenversicherungen wurden zusammengestrichen. Ein großes Konjunkturprogramm zu Gunsten der Arbeitgeber*innen und auf Kosten der Arbeitnehmer*innen.

Nebenbei bemerkt half der derzeitige Bundeskanzler Olaf Scholz, damals SPD-Generalsekretär, die unangenehmen Reformen in der eigenen Partei durchzusetzen. Und natürlich hatte man sich eine Strategie überlegt, wie die Reformen möglichst intelligent an die Bevölkerung zu verkaufen seien.

„Bild, BAMS und Glotze“, mehr brauche es, so Gerhard Schröder, damaliger Bundeskanzler, nicht zum Regieren.

Die neoliberale Propagandamaschinerie

„Bild, BAMS und Glotze“, mehr brauche es, so Gerhard Schröder, damaliger Bundeskanzler, nicht zum Regieren. Und es funktionierte: Die Medien führten eine umfangreiche Hetzkampagne gegen Arbeitslose. „Deutschlands frechster Arbeitsloser“ Arno Dübel und andere führte man am Nasenring durch die Manege, das Reality-TV zeigte der Republik täglich die angeblichen Zustände arbeitsloser Familien, die Zeitungen reproduzierten und erfanden Klischees. Die faulen Arbeitslosen nähmen den Arbeitenden das hart verdiente Geld weg und es gäbe kein Recht auf Faulheit, so das Narrativ – es wurde bewusst Hass geschürt.

Doch das neoliberale Narrativ ging und geht noch weiter: Jeder könne es schaffen, wenn er oder sie sich nur genug anstrenge. So wurde Menschen mit schlechten Startvoraussetzungen direkt die Schuld für ihre Situation zugewiesen. Die Propaganda war derart erfolgreich, dass selbst Menschen, die in Arbeitslosigkeit rutschen, ihre Gründe angeben konnten – Krankheit, Alleinerziehend, Pflege von Angehörigen usw., um dann zu sagen: „Ich bin es nicht, aber die anderen Arbeitslosen!“

So konnten diejenigen, welche unter einem massiven Lohndruck standen, Angst um ihren Job hatten oder gar ihre Familie kaum noch ernähren konnten, den Arbeitslosen die Schuld geben – die Schuld für die Auswirkungen der Reformen, für welche eigentlich die Regierung und ihre neoliberalen Berater*innen verantwortlich waren.

Die Wirklichkeit von Arbeitslosigkeit und Armut war jedoch schon immer eine andere. Alle, die in Arbeitslosigkeit und/oder Armut leben, haben ihre eigenen Biografien.

Bürgergeld – die verlorene Chance

Das Bürgergeld wäre sicher die Chance gewesen, den Druck sowohl von der arbeitenden Bevölkerung als auch von den Arbeitslosen selbst zu nehmen. Genutzt wurde sie nicht. Stattdessen wiederholten Politik und Medien die alten Narrative, bis die Reform in ihrer endgültigen Fassung wenig wirksame Änderungen enthielt. Nicht einmal eine reale Erhöhung der Regelsätze kam zustande, lediglich die Inflation wurde ausgeglichen.

Auch wenn sich die Wogen nach der Reform zumindest in der Öffentlichkeit etwas geglättet haben, so kommt die Verachtung dennoch immer wieder hoch. Zuletzt in Form des stellvertretenden Bundes- vorsitzenden der CDU, Carsten Linnemann, welcher Bürgergeldempfänger*innen nach 6 Monaten durch die Kommunen Jobs zuteilen will. Zurecht wurde dies als die Forderung nach Zwangsarbeit kritisiert. Zudem sind Bürgergeldempfänger*innen ohnehin verpflichtet jeden „zumutbaren“ Job anzunehmen, wobei hier die Zumutbarkeit so weit gefasst wird, dass eine „Unzumutbarkeit“ so gut wie nie gegeben ist (Unzumutbarkeit wäre beispielsweise gegeben, wenn die Kinderbetreuung gefährdet würde, oder Allergien gegen bestimmte Stoffe, mit denen man bei der Arbeit zwangsläufig in Kontakt kommt, bestehen). Doch selbst wenn die mediale Öffentlichkeit gerade andere Themen behandelt, so trägt der Hass, welchen sie gesät hat, in den Köpfen vieler Menschen und der Behörden weiterhin Früchte.

Bildquelle: obs/NORD STREAM RACE/NSR

  1. Der Paritätische Armutsbericht 2022. Zwischen Pandemie und Inflation, online: https://www.der-paritaetische.de/themen/sozial-und-europapolitik/armut-und-grundsicherung/armuts-bericht-2022-aktualisiert/ [Zuletzt geprüft; 16.08.2023]. ↩︎
  2. Jan Heinemann (2022): Wie Bild, RTL und Focus Fakenews mit Hartz IV Spartipps verbreiten, online: https://www.gegen-hartz.de/news/wie-bild-rtl-und-focus-fakenews-mit-hartz-iv-spartipps-verbreiten#Spartipps_sollen_aufzeigen_Hartz_IV_ sei_sogar_zu_hoch [zuletzt geprüft: 16.08.2023]. ↩︎

Das Dishwasher Magazin ist ein Magazin von Arbeiter*innenkindern für alle. Der Name bezieht sich auf den sog. Tellerwäscher-Mythos, also der Annahme, jede*r egal wo er oder sie herkommt und wer die Eltern sind, könne vom Tellerwäscher zum Millionär werden. So predigen es häufig privilegierte Menschen, auch wenn dies nicht der Realität entspricht.

Skip to content